Hallo, Foris!
Ich habe mir heute mal Gedanken über den 4. Schritt von AA gemacht, in dem es ja heißt,
Wir machten gewissenhaft und furchtlos Inventur in unserem Inneren. Die Inventur ist ja der Auftakt zu Abbitte und Wiedergutmachung. Deshalb dachte ich, der Text passt hier auch gut rein.
... wir werden behaupten, dass unsere schlimmen Charakterfehler, falls wir überhaupt welche haben sollten, hauptsächlich auf das exzessive Trinken zurückzuführen sind. Wenn das so ist, glauben wir logischerweise, dass wir nur Nüchternheit anstreben müssen - jetzt und immer. Grünes Buch von AA, Seite 42Ich bin Helferlein und co-abhängig (nomen est omen...)
Neulich sprach jemand ausführlich über den vierten Schritt und das Erkennen seiner Charakterfehler. Je länger ich zuhörte, desto unbehaglicher wurde mir, und ich nahm mir vor, hier etwas zum vierten Schritt und zum Stichwort Charakterfehler zu schreiben. Aus diesem Grund habe ich heute einmal das grüne Buch von AA, "Die zwölf Schritte und die zwölf Traditionen" hervorgeholt und als erstes gestaunt, wie viel Raum in diesem alten AA-Werk das Thema Sexsucht einnimmt. Offensichtlich war das auch schon vor 40 oder 60 Jahren ein Thema. Nur hat man es damals noch anders genannt.
Dann bemerkte ich, welche Worte im Text zum vierten Schritt benutzt werden. Ich zähle mal nur eine Handvoll auf, die mir auf S. 42 ff. aufgefallen sind:
Geltungssucht, Prunk, Macht, Stolz, Opfer <sein>, überheblich, Rachsucht, Selbstmitleid, Einbildung, <sich> aufspielen. Unmoral. Sünde,
Stolz. Geiz, Unkeuschheit, Zorn, Unmäßigkeit, Neid und Trägheit.
Sex- und Machtgier.
Ich werde gleichzeitig traurig und ärgerlich, wenn ich die Texte lese.
Ich fand heute an anderer Stelle die Aussage:
Ich glaube auch, daß ich <...> etwas zu viel Druck mit <...> "Charakterfehlern" mach<..>
Es fällt mir sehr schwer, sie in Liebe anzunehmen - einige ja, andere nicht.
Und wenn ich dann einen kleinen Fortschritt feststelle, dann beurteile ich mich so gönnerhaft von oben herab, daß es mich manchmal noch weiter runterzieht.
Ich fasse zusammen:
Neulich habe ich gehört, wie jemand beim Thema Inventur den Fokus sehr auf seine Charakterfehler legte.
Auch andere Menschen werden durch die Inventur auf eigene Verhaltensweisen aufmerksam und benennen sie dann als Fehler, Charakterfehler.
Ich habe große Schwierigkeiten damit, diesen Blick einfach so stehen zu lassen.
Ich möchte die Menschen, die so vom vierten Schritt denken, gern an eine andere Sichtweise heranführen.
Eine Sichtweise, die uns von der Scham befreit und uns die Handlungsfähigkeit zurückgibt.
Jede meiner Handlungen, all meine Verhalten lassen sich auf ein sehr einfaches Prinzip zurückführen.
Sie erfüllen mir ein Bedürfnis. Ich verhalte mich, um mir ein Bedürfnis zu erfüllen.
Nun
kann <muss aber nicht!> man dieses Verhalten in moralische Kategorien einordnen.
Gut <===> schlecht
Richtig <===> falsch
Rachsüchtig <===> edel
Stolz <===> selbstlos
Theoretisch könnte ich eine wunderbare Excel-Tabelle bauen, wo links die "bösen" Charaktereigenschaften sind und rechts die "guten". und dann kann ich, je nach Situation und Tagesform, mir auf einem Zahlenstrahl von Minus nach Plus Noten geben. Ich kann mich bewerten. Und mein Rüstzeug dafür übernehme ich von anderen, von der Gesellschaft, der Kirche, der Rechtsprechung, auf jeden Fall gibt es einen äußeren Maßstab für das was ich tue. ich bin gut oder schlecht.
Die meisten Menschen in der westlichen Zivilisation betrachten die Welt in solchen Polaritäten.
Gut <===> schlecht.
Und entweder urteilen sie selbst, oder sie werden beurteilt.
Im Buch "Kurs in Wundern" gibt es die Aufgabe:
Heute will ich über nichts, was geschieht, urteilen. Und der persische Sufi-Meister Rumi schrieb die Zeilen:
Jenseits von Richtig oder Falsch gibt es einen Ort. Dort werden wir uns begegnen. Wie könnte meine Inventur heute aussehen? Wie kann ich meinen vierten Schritt machen, ohne mich selbst ständig in genügend und ungenügend abzuurteilen?
Ich möchte meine Inventur machen, indem ich mein Verhalten ansehe.
Ein fiktives Beispiel.
Gestern habe ich rumgeschrien, bis die Kinder zitterten, und zum Schluss den Hund getreten. Das ist die Beobachtung.
Welches Bedürfnis war bei mir unerfüllt?
Ich hatte das Bedürfnis nach Unterstützung und Zuwendung. Mir fehlte Klarheit und Verständnis. Die Gefühle dazu waren Wut, Frustration, Schmerz, Trauer, Enttäuschung und Einsamkeit.
Meine Strategie, mit diesen Gefühlen und Bedürfnissen umzugehen - zu brüllen und dem Hund zu treten - dienten sie dem Leben?
Nein!
Doch in dem jeweiligen Moment hatte ich keine Wahl! Mein Zorn war so stark, dass ich mir nicht anders zu helfen wusste.
Und heute betrauere ich die Folgen.
Ich verbringe Zeit damit, auf meine Bedürfnisse in der jeweiligen Situation zu schauen. Oh, Unterstützung hätte mir gefehlt. Und Klarheit... Und ich kann mich fragen: Welchen Beitrag kann ich in so einer Situation dazu leisten, die gewünschte Unterstützung zu bekommen? Welche Möglichkeiten habe ich, wenn ich in einer ähnlichen Situation bin?
Ich trauere darum, dass meine Kinder vor mir gezittert haben, als ich so rumgebrüllt habe. Und ich trauere darum, dass der Hund jetzt immer mit eingezogenem Schwanz unter dem Schrank verschwindet, wenn er mich kommen hört. Ich fühle den Schmerz, dass durch mein Verhalten solche Ängste ausgelöst wurden. Und ich werde mir drüber im klaren, dass ich gern andere Strategien finden möchte, um mit meiner Wut umzugehen.
Mit keinem Wort muss ich mich abwerten. ich muss mich nicht anklagen und niedermachen. Ich kann ansehen, wie ich mich verhalten habe, ich kann mein Verhalten wertschätzen oder betrauern.
Und ich kann überlegen, wie ich meine Bedürfnisse auf gesündere, erfüllendere Weise befriedigen kann. Denn ich will nicht, dass meine Kinder Angst vor mir haben.
Ich selber habe den Schlüssel in der Hand. Wenn ich meine Gefühle und Bedürfnisse kenne, kann ich mich darum kümmern, dass sie erfüllt werden. Meine Bedürfnisse nach Unterstützung und Klarheit, meine Bedürfnisse nach Trost und nach einem Ausweg...
Ich bin zu jeder Zeit für meine Gefühle und meine Handlungen verantwortlich. Dienen sie dem Leben? Dann ist es gut. Und sonst gibt es Raum, einen, viele, tausend Wege zu finden, um meine Bedürfnisse zu erfüllen, ohne andere durch mein Verhalten zu irritieren.
So kann ich Schritt für Schritt meine Inventur angehen. Ich kann mein Verhalten betrachten, ohne es zu bewerten in gut und schlecht, richtig oder falsch. Ich habe den Schlüssel zur Veränderung in der Hand. Und ich brauche mich nicht zu schämen. Ich kann mein Verhalten betrauern oder wertschätzen. Was für eine Befreiung aus der Schuld- und Schamfalle!
Danke fürs Teilen
Helferlein