Der tote Grünspecht
Schlawine ist einem netten, älteren Herrn Weinberg ins Netz gegangen und Kurti Würmchen, der eloquente Regenwurm, muss zunächst allein mit Berti den mysteriösen Tod des fremden Grünspechtes aufklären. Schlawine trifft sich lieber zum Picknick mit ihrem feurigen Verehrer.
Es ist früh am Morgen. Gerade setzt am Horizont die erste Morgendämmerung ein. Ein paar Blaumeisen piepsen verschlafen in den Zweigen eines verwilderten Ranunkelstrauches.
Unbeschwert von Müdigkeit pfeift Kurti Würmchen vergnügt ein Liedchen vor sich hin und schlängelt sich durch das verwilderte Blumenbeet im idyllischen, ungepflegten Gärtchen am Rande des Wäldchens. In diesem pastellfarbenen Morgenglanz leuchten die Blüten prachtvoll und hier und da wirbeln schon erste rotgoldene Herbstlichter in den Baumkronen.
Er will seine Freundin Schlawine Schlafmütz aufsuchen und reibt sich die Hände vor lauter Vorfreude auf leckere Nussringe. Doch daraus wird nichts!
Schon von weitem hört Kurti das aufgeregte Durcheinander vieler Stimmen. Neugierig nähert er sich dem Stimmengemurmel.
„Er wurde umgebracht!“ kreischt jetzt eine hohe Fistelstimme. „Wir müssen Gustl alarmieren!“ antwortet ein aufgeregter Bariton. Kurti reckt den Hals. Im Nachbargarten sieht er eine wild gestikulierende Schar bekannter Gartenbewohner.
„Was ist denn geschehen?“ fragt er einen älteren Schneckenherrn, der ihm eilig entgegenkommt. Doch der Satz bleibt ihm im Halse stecken, denn jetzt sieht er mit entsetzten Augen, was soviel Aufregung unter den Gartenbewohnern hervorruft. „Was ist denn das?“ keucht er erschrocken. „Sieht aus wie ein grüner Vogel, liegt mitten auf dem Rasen. Da, der rote Punkt am Kopf. Ein Grünspecht?“ mutmaßt der Alte.
Inmitten des überaus gepflegten Nachbargartens, auf dem Rasen, der liebevoll und sorgfältig in lauter gleich lange Grashalme geschoren wurde, liegt ein riesiges, grünes Etwas mit einem leuchtenden roten Punkt auf dem Kopf. Kurti erkennt ihn jetzt. Der fremde Grünspecht hat seit Wochen mit seinem kreischenden, gellenden, geckernden Lachen die Nachbarschaft zur Weißglut gebracht. Nun liegt er unnatürlich still mit merkwürdig abgewinkeltem Kopf auf dem Rasen.
„Tot?“ fragt Kurti sicherheitshalber den neben ihm stehenden Schneckenherrn. „So tot, wie man nur sein kann!“ knurrt der Alte. „Und wie…“ fragt Kurti, bricht ab und räuspert sich. „Weiß noch keiner. Erkennen kann man nichts!“ antwortet der bissige Schneckenmann. „Sieht nach Genickbruch aus, oder?“
Unterdessen ist Gustl Grünfink, der Gartenpolizist mit dem Emblem auf der Kappe, mit einer Schar Helfer herbei geeilt und untersucht den Fall.
„Zurücktreten!“ rufen sie den Schaulustigen zu und scheuchen sie nach hinten. Kurti sieht sich nach Schlawine um. Doch er entdeckt weder sie noch Berti Buntspecht. Kurti seufzt.
Schlawine hat sich in der Tat seit Tagen äußerst rar gemacht. Kurti hat sie kaum mal von Weitem gesehen. Und das bekümmert ihn.
Denn Schlawine Schlafmütz, die streitsüchtige Salatschnecke, ist einem bezaubernden, älteren Weinbergschneckenherrn ins Netz gegangen. Sie hat vor seinen reizenden Aufmerksamkeiten und Komplimenten die Segel gestrichen und vergessen, dass sie sich mit Kurti verabredet hat. Stattdessen turtelt sie mit ihrem charmanten Verehrer in der Nähe einer kleinen Quelle am Rande der weitläufigen Senke, die an der Seite des verwahrlosten Wäldchens angrenzt.
Der Schneckenherr ist äußerst zuvorkommend, hat einen ausladenden Picknickkorb dabei und köstliche Salatblätter mit entzückenden, schmackhaften, roten Beeren geschmückt. Die kleine Quelle gluckert einladend, der Wind fächert ihnen Kühlung zu, die Lichter tanzen auf dem murmelnden Bächlein, in der Ferne ertönt Glockengeläute. Verzaubert genießt Schlawine dieses gemeinsame Frühstück und verliert sich in Träumereien.
„Sie sind zugezogen?“ fragt sie beiläufig. Denn sie weiß nichts von ihrem feurigen Verehrer. Niemand hat ihn bisher gekannt.
„Aber Frau Schlawine! Wir wollen uns doch diesen herrlichen Sommermorgen nicht mit langweiligen Lebensgeschichten verderben“, flötet Herr Weinberg mit einem bestrickenden Lächeln im Gesicht. „Nach diesen vielen Unwettern der letzten Zeit ist es heute doch recht freundlich“, lenkt er geschickt das Gespräch auf das Wetter.
Ein willkommenes Thema, denn tatsächlich liegt ein feuchter Sommer hinter ihnen mit heftigen Unwettern, Gewittern und Hagelschlägen. Schlawine lässt sich nur zu gerne ablenken. Heute treffen die beiden sich schon zum zweiten Male und sie schwebt im siebten Himmel. Charmant lispelt sie: „Ich genieße den feuchten Sommer sehr. Er ist mir lieber als die anhaltende Trockenheit im Frühling, unter der ich sehr gelitten habe. Ich genieße es, über die herrlich matschigen Erdklumpen zu ziehen.“ Herr Weinberg ist ganz Ohr und bestätigt ihre Worte mit angenehmen Geplauder. „Durch die schweren Regenfälle kam es vor Kurzem zu einem gefährlichen Erdrutsch am Rande des Wäldchens“, wirft er mit wohlgefälligen Worten ein.
„Ja, ich hörte davon. Viele Baue wurden überschwemmt. Die Igeldame Miriam Mrraatz musste in diesem Sommer häufig umziehen. Auch Maulwurf Meinrad hat es schwer gehabt und Frau von Wa-, aber die kennen Sie ja noch nicht, “ säuselt Schlawine.
„Leider, leider!“ bedauert Herr Weinberg. „Dies scheint eine sehr enge Gemeinschaft zu sein, nicht wahr? Sie kennen sich alle sehr gut?“ Schlawine lässt sich bereitwillig aushorchen und erzählt von ihren Nachbarn. Im letzten Herbst habe es ein großes Fest gegeben auf dem Schloss derer von Waldmaus zu Hohenfels, natürlich war man eingeladen und hatte diesen und jenen getroffen. „Eine angenehme Gemeinschaft, fürwahr. Es war ein wunderbares Fest, viel größer als die Hochzeit neulich“, gibt Schlawine zum Besten.
Die Blaumeisen von der Hainbuchenhecke feierten vor Kurzem Hochzeit. Es war ein glanzvolles Ereignis. Alle Bewohner der näheren und weiteren Umgebung waren eingeladen.
Dort lernte Schlawine Herrn Weinberg kennen und sie fühlte sich sehr geschmeichelt von seinen reizenden Komplimenten.
Zu ihrer großen Überraschung scharwenzelte er ununterbrochen um sie herum und verwöhnte sie mit ausgesuchten Naschereien.
Und so verdarb er Kurti Würmchen und Berti Buntspecht das ganze Fest! Denn Schlawine beachtet seitdem die beiden nicht mehr.
Erst gegen frühen Nachmittag kehrt das verliebte Paar heim. Kurti erwartet Schlawine vor ihrer Wohnung und will ihr die letzten Neuigkeiten berichten. Doch Schlawine verabschiedet sich äußerst aufmerksam und umständlich von Herrn Weinberg und winkt dann nur unwillig ab. „Es interessiert mich nicht!“ fertigt sie den verblüfften Kurti kurzerhand ab und schlägt ihm die Tür mit einem lauten Knall vor der Nase zu.
Fortsetzung hier:
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